Gespräch mit Bundeswehrangehörigen, Akademie Bensberg, Januar 2003
"Blut im Schuh"
An den Fronten des Weltbürgerkriegs:
Beobachtungen eines Schriftstellers
Bevor ich Ihnen mein neues Buch vorstelle, möchte ich kurz ein paar Worte sagen, wie ich dazu kam, Kriegsberichterstatter zu werden. Das ist kein Beruf, sondern eher eine Berufung, und man übt eine solche Tätigkeit nicht immer aus, sondern nur ab und zu. Ich bin eigentlich Schriftsteller und kein Journalist, habe mehrere Dutzend Bücher geschrieben - Romane, Erzählungen, aber auch Reportagen. Und anders als die meisten deutschen Autoren beschäftige ich mich nicht nur mit dem Land, in dem ich lebe, oder der Stadt, in der ich lebe, mit Berlin. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist seit vielen Jahren die Dritte Welt. Das hat zwei Gründe. Einmal bin ich ein typischer Alt-68er: Damals stand die Revolution in der Dritten Welt im Fokus der Aufmerksamkeit. Namen wie Che Guevara und Mao Tse Tung haben uns damals fasziniert, und wir hatten eine Menge Illusionen im Bezug auf revolutionäre Umwälzungen in weit entfernten Erdteilen. Dazu kommt bei mir noch eine familiäre Prägung: Mein Großvater hatte Ende des 19. Jahrhunderts Deutschland verlassen und war auf Haiti seßhaft geworden. Er war Botaniker und hatte in der Hauptstadt Port au Prince eine Apotheke. Er hat viele Pflanzen gesammelt und zum Teil auch neue entdeckt, Pflanzen, die noch heute seinen Namen tragen. Er heiratete eine Einheimische, so daß ich dort bis heute Angehörige habe. Haiti - das ist nicht zu verwechseln mit Tahiti oder Hawaii. Mein Verleger sagt manchmal: "Wieviel müssen wir Ihnen bezahlen, damit Sie endlich aufhören, über Tahiti zu schreiben?" Schön wäre es. Es handelt sich nicht um eine Ferieninsel in der Südsee, sondern um eines der ärmsten Länder der Welt, gleich neben Kuba in der Karibik gelegen. Ich habe mehrere Romane über die Geschichte dieses Landes verfaßt, die sehr turbulent und blutig war.
Dann habe ich - schon in den 80er Jahren - Reportagen für GEO geschrieben. Ich war Zeuge, als der Diktator "Baby Doc", Jean-Claude Duvalier, fliehen mußte; und später habe ich in Haiti diverse Putschversuche und Staatsstreiche erlebt. So auch am 29. November 1987, als das Militär - das Wort Armee ist zu hoch gegriffen, denn es handelte sich eher um eine Räuberbande - die Wähler zusammenschoß. Das waren die ersten demokratischen Wahlen seit über 30 Jahren, und es passierte etwas, womit kein Beobachter gerechnet hatte. Man dachte, das Wahlergebnis werde möglicherweise manipuliert oder ähnliches. Statt dessen fuhr die Armee mit Lastwagen vor und nahm die Wähler unter Feuer, die dort Schlange standen. Ich stand daneben und mußte selbst in Deckung gehen. Das war eine Reportage, die eigentlich nicht in eine Zeitschrift wie GEO paßte, die lieber über positive Dinge berichtet mit schönen Fotos exotischer Länder und fremder Kulturen.
Das war mein Einstieg in die Kriegsberichterstattung. Bald darauf schickte mich die ZEIT nach Liberia, wo ein komplizierter, grauenhafter und viel zu wenig bekannter Bürgerkrieg im Gange war, der deshalb so schwer zu verstehen ist, weil es nicht nur zwei Parteien gab wie in Ruanda - Hutus und Tutsis -, sondern bis zu sieben sogenannte Befreiungsarmeen, die sich in wechselnden Allianzen bekriegten. Im Laufe dieser Kämpfe verwandelte sich die frühere Regierung und selbst die reguläre Armee in eine Bürgerkriegspartei unter vielen.
Das ist ein Beispiel für das, was passieren kann, wenn ein Staat zerfällt, etwas, das wir uns 1968 naiverweise wünschten. In Liberia sah ich, was für ein Horror dabei heraus kommt - nämlich Anarchie und Chaos, in dem es nur noch Verlierer gibt. Diese Bürgerkriege enden nicht mit dem Sieg der einen oder anderen Seite - es sind überhaupt keine regulären Kriege, vielmehr ein fortgesetztes Plündern und Massakrieren -, sondern sie enden mit allgemeinem Blutverlust und wirtschaftlichem Ruin. Am Ende geht irgendeiner dieser warlords als Sieger hervor. In Liberia wurde der schlimmste von ihnen dann Präsident - Charles Taylor, der sich in diesem langjährigen Krieg am übelsten aufgeführt und am meisten bereichert hatte. Inzwischen haben die Unruhen auf das Nachbarland Elfenbeinküste übergegriffen.
Ich war dann längere Zeit in Ruanda. Was ich dort gesehen habe, hat mich so geschockt, daß ich ein eigenes Buch darüber schreiben mußte. Mit einem Bericht für eine Zeitung war es nicht getan. Schon der Taxifahrer am Flughafen hatte mir erzählt, daß und vor allem wie die Mitglieder seiner Familie umgebracht worden waren. Der Völkermord in Ruanda war das schlimmste derartige Ereignis seit dem zweiten Weltkrieg.
Stellen Sie sich vor: Dort mußten die Opfer bezahlen, wenn sie erschossen werden wollten - eine tödliche Kugel war ein Privileg. Sonst wurden sie mit Macheten zerstückelt oder an Autos gebunden und durch die Straßen geschleift - und das alles vor den Kameras der Weltpresse. Dann zogen die UNO-Beobachter ab, die durch ein frühzeitiges Eingreifen den Massenmord hätten verhindern können. Für dieses Nicht-Eingreifen hat sich Bill Clinton später entschuldigt, als er Ruanda besuchte.
Ich war auch in Bosnien, in Tschetschenien, im Kosovo, in Algerien, in Osttimor, im Sudan. Ich will und kann das jetzt nicht rekapitulieren, weil es sich ohnehin nur schwer auf einen Nenner bringen läßt, obwohl es gewisse Gemeinsamkeiten gibt.
Ich kann nur sagen, daß sich aufgrund dieser Reisen mein Verhältnis zum Militär, speziell zur deutschen Bundeswehr, positiv gewandelt hat. Ich war früher eher kritisch eingestellt gegenüber dem Militär, später habe ich mich dann jedes Mal gefreut, wenn ich eine reguläre Armee sah an Orten, wo bewaffnete Banden das Sagen hatten - Rebellen, Milizen oder wie immer sie sich nennen. Nur in den seltensten Fällen waren es reguläre Armeen, die Greueltaten verübten in den Bürgerkriegen der 90er Jahre.
Ich möchte Ihnen jetzt einige Passagen aus meinem Buch vorlesen - es sammelt meine Reportagen aus Kriegsgebieten und wird begleitet von einem Essay, in dem ich mir noch einmal Rechenschaft ablege über das, was ich gesehen und erlebt hatte. Sie können sich denken, daß einen das noch lange weiterbeschäftigt. Es ist nicht erledigt mit dem Schreiben eines Artikels, und ich denke, daß diese Traumatisierung mittlerweile weithin bekannt ist. Man geht verändert aus solchen Erlebnissen hervor.
Stellen Sie sich vor, Sie seien soeben in Dili gelandet, der Hauptstadt von Osttimor, und stünden vor einem zerbeulten Pick?up?Truck, auf dessen Ladefläche zehn aneinandergekettete Personen mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden sind: eine Laokoon?Gruppe, die nicht aus Marmor, sondern aus verkohltem Menschenfleisch besteht. Ich erspare Ihnen den Anblick der aus dem verschmorten Fleisch ragenden Knochen sowie die Beschreibung des an Grillpartys erinnernden, süßlichen Geruchs und spreche lieber von den Blumen und Münzen, die Anwohner auf die Asche streuen, um die Geister der Ermordeten zu besänftigen. Das ist tröstlicher.
Sie sagen, Sie könnten sich das nicht vorstellen, Osttimor sei viel zu weit weg?
Diese Ausrede gilt nicht, Dili liegt nur zwei oder drei Flugstunden von Ihrem bevorzugten Urlaubsziel auf Bali oder den Malediven entfernt. Im Zeichen der Globalisierung gibt es keine entlegenen Inseln mehr, und virtuell sind alle Punkte des Globus Ihrem Wohnort gleich nahe gerückt. Aber ich will die Ausrede trotzdem gelten lassen: Sie haben weder Zeit noch Geld, sagen Sie, nach Darwin in Nordaustralien zu fliegen, um sich dort bei der UNAMET oder INTERFET zu akkreditieren - so heißt die nach Osttimor entsandte Blauhelmtruppe - und mit einer Militärmaschine nach Dili zu fliegen, was Sie nichts kosten würde, sofern Sie einen Presseausweis besitzen oder für eine Hilfsorganisation tätig sind. Aber vorher müßten Sie ein indonesisches Visum beantragen, was ziemlich lange dauern kann, da Osttimor nur noch de jure, aber nicht mehr de facto zu Indonesien gehört.
Inzwischen gehört Osttimor nicht mehr zu Indonesien, aber als ich das schrieb, war es noch nicht unabhängig.
Und ich will Ihnen nicht verschweigen, daß die Kommunikation dort schwierig ist, weil man keine europäische Sprache mehr spricht - nur ältere Timorer verstehen Portugiesisch, die Jugend, das heißt die Mehrheit der Bevölkerung, spricht nur Bahasa Indonesia und Tetum, ein lokales Idiom. Noch dazu gibt es in Dili weder Hotels noch Restaurants, kein Wasser und keinen Strom, dafür aber Moskitos und Salzwasserkrokodile, die das Baden im Meer zum Risiko machen. Trotzdem ist die Gefahr, von einem Krokodil gefressen, sehr viel geringer als die Chance, von der Kugel eines proindonesischen Rebellen getroffen zu werden; und auch das ist weniger wahrscheinlich als die Gefahr, an Typhus oder Malaria zu erkranken.
Wie wäre es mit dem Kosovo statt dessen? Pritina liegt nur eine oder zwei Flugstunden von Wien oder Berlin entfernt, wenn Sie wollen, können Sie sogar mit dem Auto hinfahren; Einheitswährung ist die D?Mark, deren Kaufkraft größer ist als in der Bundesrepublik, und zur Einreise genügt ein Personalausweis. Stellen Sie sich also vor, Sie seien soeben in Gjakovė eingetroffen, das auf serbisch Djakovica heißt, und stünden vor einem Massengrab, das in Ihrer Gegenwart geöffnet wird. Aus der locker gehäuften Erde ragt ein leerer Ärmel, aus dem ein Wurm kriecht, und der neben Ihnen stehende Einheimische sagt eher beiläufig, daß dies die Jacke seines Bruders ist, den serbische Polizisten erschossen haben und den er mit anderen Getöteten heimlich im Obstgarten begraben hat, bevor die Behörden die Leichen verschwinden lassen konnten.
Später, auf dem Weg durch die von Artillerie?Einschlägen gekerbte muslimische Altstadt, zeigt der Einheimische auf eine von Brandbomben geschwärzte Ruine und sagt, das sei sein Haus; nur der aus Deutschland mitgebrachte Porsche, den er sich von seinem als Gastarbeiter verdienten Geld anschaffte, habe, unter einem Heuhaufen versteckt, den Krieg überstanden.
Sie bieten ihm eine Zigarette an, aber der einheimische Führer lehnt dankend ab, obwohl er, wie er sagt, seit drei Monaten keine Marlboro mehr geraucht hat. Sie wollen ihm die ganze Packung geben, aber er meint, das sei ein viel zu wertvolles Geschenk, und nimmt nur widerstrebend eine einzige Zigarette an, die er, um sie später zu rauchen, in die Brusttasche steckt. Dann führt er Sie zum ehemaligen Polizeihauptquartier, einem mehrstöckigen Betonklotz, in dessen Fassade eine ferngelenkte Nato?Rakete - Cruise Missile oder Tomahawk - ein klaffendes Loch gerissen hat. Das Treppenhaus ist noch intakt, und Sie klettern über Schutthaufen und zerborstene Stahlträger hinweg zu einem Büro im oberen Stock, auf dessen Schreibtisch sich Karteikarten mit Fahndungsphotos und Fingerabdrücken häufen, daneben, wie in einem schlechten Film, eine halbleere Slibowitzflasche und ein zerfleddertes Pornoheft.
"Das", sagt Ihr Führer und wischt die Asche von einer verstaubten Karteikarte, "war ein Vetter von mir, der im Keller des Polizeireviers gefoltert worden ist. Dabei hatte er nichts mit der UCK zu tun."
Beim Verlassen des Gebäudes werden Sie von Frauen mit verweinten Gesichtern umringt, die Photos ihrer von der Miliz verschleppten Ehemänner, Brüder und Söhne hochhalten. Eine Mutter bittet Sie um Hilfe bei der Suche nach ihrem fünfzehnjährigen Sohn, der seit sechs Wochen spurlos verschwunden ist. Es fällt Ihnen schwer, der Frau begreiflich zu machen, daß Sie kein Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR oder des Roten Kreuzes sind, und Sie kommen sich dabei ziemlich schäbig vor.
An diesem Punkt protestieren Sie und wollen wissen, warum ich das Elend der Welt vor Ihnen ausbreite, an dem Sie, selbst wenn Sie wollten, nichts ändern könnten, weil es sich Ihrem Einfluß entzieht? Wie sollen Sie als Zuhörer oder Leser darauf reagieren außer mit Schock und Scham, ohnmächtiger Wut oder hilfloser Betroffenheit? Wenn ich wenigstens zu Geldspenden aufrufen würde, um die drückendste Not zu lindern - aber so? Meine rhetorische Frage, ob Sie denn nicht neugierig seien auf den Zustand der Welt, in der Sie leben, beantworten Sie mit dem Hinweis, Ihre Aufnahmefähigkeit für fremdes Leiden sei begrenzt, und geben mir zu verstehen, daß Sie genügend eigene Sorgen haben und praktische Nächstenliebe einer abstrakten Fernstenliebe vorziehen, die den Sprecher zu nichts verpflichtet und nur der Zurschaustellung seines guten Gewissens dient. Doch gibt es einen Einwand, der Sie nachdenklich macht: die Frage nämlich, ob das, was anderswo möglich ist, nicht morgen oder übermorgen vor Ihrer eigenen Haustür passieren kann. Die Stadt Prizren, deren stellvertretender Polizeichef Milan Petrovic nach Angaben von UN?Ermittlern kosovarische Zivilisten zu Tode gefoltert hat, liegt nur anderthalb Flugstunden von München entfernt.
Es ist der erste Tag des Nato?Einsatzes, und das Menschenrechtstribunal in Den Haag hat noch keine Beobachter in den Kosovo entsandt. Erst vor einer Stunde haben Panzerspitzen der Bundeswehr bei Kukės die albanische Grenze überquert und nähern sich langsam den Außenbezirken von Prizren, wo der stellvertretende Polizeichef seine Wut diesmal nicht an Einheimischen ausläßt, seinen gewöhnlichen Opfern, sondern an zwei vor dem Checkpoint wartenden Journalisten, die ins Stadtzentrum zu gelangen versuchen. Er reißt dem mich begleitenden Reporter aus Buenos Aires die Nato?Akkreditierung aus der Hand und trampelt mit dem Stiefelabsatz darauf herum, und als der Argentinier protestiert und ihn als Hurensohn, hijo de puta, beschimpft, tobt der Polizeichef wie Rumpelstilzchen, das zum ersten Mal seinen richtigen Namen hört, und setzt ihm seine geladene Waffe auf die Brust. Ich fürchte um sein Leben und rede beruhigend auf den Argentinier ein, der mit spitzen Fingern, als handle es sich um etwas Unappetitliches, den Lauf des Gewehrs zur Seite schiebt, aber der Zorn des Polizeichefs wird dadurch nicht besänftigt, im Gegenteil - er fletscht die Zähne wie ein Kampfhund, der seinem Opfer an die Gurgel fahren will.
In diesem Augenblick donnert, als Retter in der Not, eine Fahrzeugkolonne der Bundeswehr vorbei: Leopardpanzer mit lachenden, verschwitzten Soldaten, die uns aus einem Panzerturm fröhlich zuwinken, als glaubten sie an ein Mißverständnis oder einen Scherz. Ohrenbetäubender Lärm, eine Wolke von Abgasen hüllt uns ein, und als der Staub sich verzieht, haben wir im Windschatten des Konvois die Straßenkreuzung überquert und unseren Bewacher ausgetrickst, der sich fluchend den Dreck von der Uniform klopft.
Auf der abendlichen Pressekonferenz im früheren Gebäude der OSZE, das jetzt als Stabsquartier dient, spricht der kommandierende General von einem vollen Erfolg: Das deutsche Nato?Kontingent sei planmäßig nach Prizren eingerückt, und trotz der angespannten Lage sei es nicht zu Plünderungen und Ausschreitungen gekommen. Daß zur gleichen Stunde zwei Stern?Reporter und ihr Dolmetscher nördlich von Prizren von Heckenschützen erschossen worden sind, wissen wir zu dieser Zeit noch nicht.
Solche Ereignisse sind nicht nur schrecklich, sondern zur gleichen Zeit auch komisch. Der Argentinier, von dem ich schon damals den Verdacht hatte, er sei gar kein Journalist, sondern ein Abenteurer, der sich als Journalist ausgab - ein älterer Mann im Jeansanzug mit Goldkreuz auf der behaarten Brust; er ging ganz steif und sagte gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft, er habe sich zweimal das Rückgrat gebrochen, beim Drachenfliegen und beim Fallschirmspringen, dieser Argentinier sagte zu dem serbischen Paramilitär: "Ich nix Nato, ich Maradona." Der Serbe hatte in diesem Augenblick wenig Sinn für Humor.
Genauso seltsam inmitten der allgemeinen Zerstörung war jener Porsche, den der kosovarische Gastarbeiter aus Deutschland mitgebracht und der alles unbeschadet überstanden hatte.
Warum machen Sie das? Warum begeben Sie sich freiwillig in Gefahr, Herr Buch?
Auf diese mir immer wieder gestellte Frage habe ich außer einem verlegenen Lächeln keine Antwort parat, weil ich es nicht genau weiß - das Motiv meines Handelns ist mir selbst nicht klar. Patriotische Begeisterung scheidet ebenso aus wie politische Überzeugung, jener moralische Impetus, der einst linke Intellektuelle bewog, sich am Spanischen Bürgerkrieg oder am Feldzug der Alliierten gegen Hitler zu beteiligen. Ich bin kein Frontsoldat wie Ernst Jünger und kein Haudegen wie Hemingway, dessen pubertäres Macho?Ideal sich aus Kampf? und Jagderlebnissen speiste, sondern ein passiver Beobachter, der, ohne in das Geschehen einzugreifen, doch leidenschaftlich Partei ergreift. Abenteuerlust gehört sicher dazu, aber Neugier ist das bessere Wort dafür: Neugier auf die condition humaine nach dem Ende des Kalten Krieges - ich will wissen, wie meine Mitmenschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben und woran sie sterben - aber Neugier auch auf mich selbst. Indem ich mich in Extremsituationen begebe, versuche ich, etwas in Erfahrung zu bringen über mich selbst.
Noch Mitte der achtziger Jahre waren Live?Berichte von den Roten Khmer in Kambodscha oder den Bojewiki in Tschetschenien, damals noch integraler Teil der Sowjetunion, technisch und politisch ein Ding der Unmöglichkeit.
Heute übermitteln Computer, Fax und Satellitentelefone in Sekundenbruchteilen Texte und Bilder von einem Punkt der Erde zum anderen und unterlaufen mühelos jede staatliche Kontrolle und Zensur. Die Kehrseite des technischen Fortschritts sind Reporter, die nichts wissen über die Geschichte und Kultur des Landes, in dem sie unterwegs sind, ganz zu schweigen von dessen Sprache. Das ist auch nicht nötig, weil sämtliche Daten und Fakten im Computer gespeichert und der von ihnen verfaßte Text selten länger als eine Bildunterschrift ist.
Ich hatte das Privileg, für die ZEIT lange Texte schreiben zu dürfen, nicht die Tagesaktualität zu bedienen, sondern lange Reportagen, die erst Wochen später erschienen - Hintergrundberichte. Damals wußte ich gar nicht, was für ein Privileg das ist, denn die meisten Journalisten sind gezwungen, von Tag zu Tag zu schreiben und haben in der Regel sehr wenig Platz. Aber ein komplexer Konflikt wie etwa der Bürgerkrieg in Liberia läßt sich nicht in zwei, drei Sätzen wiedergeben. Wer solche Kurzmeldungen schreibt, muß auf jede Differenzierung verzichten.
Das Gegenstück zum Reporter ist der Experte, der nur ungern sein Büro im Institut verläßt; statt an die Front geht er in die Bibliothek oder eine Treppe tiefer, ins Archiv. Er glänzt auf internationalen Kongressen mit Fachwissen, das er von Studenten sammeln und von seiner hübschen Assistentin aufbereiten läßt, bevor er es an die Regierung weitergibt. Daneben ist hier ein neuer Typus zu konstatieren, der heutzutage in fast allen Krisenregionen anzutreffen ist: der Rucksackreporter, das journalistische Äquivalent zum Rucksacktouristen - zumeist ein Student aus Kanada oder den USA, der mit Laptop und Videokamera durch ein Kriegsgebiet irrt, ständig in Gefahr, als Spion verhaftet oder erschossen zu werden, weil ihm keiner glaubt, daß er Material für seine Magisterarbeit sammeln will.
Solche Leute sind mir tatsächlich des öfteren begegnet.
Wer, wie ich, nur mit Bleistift und Notizblock bewaffnet ist, hat es besser: Die Kämpfer der Kriegsparteien halten ihn für einen Priester oder einen Arzt, während er von Fernsehreportern als Relikt aus dem Gutenberg? Zeitalter mitleidig belächelt wird.
Aber ich bin kein Journalist, sondern Schriftsteller von Beruf, und ich bin nicht der erste Autor, der freiwillig in einen Krieg gegangen ist, ohne, wie dies normalerweise der Fall ist, durch höhere Gewalt dazu gezwungen oder verpflichtet zu sein. Seit Mitte der neunziger Jahre habe ich im Auftrag der Wochenzeitung DIE ZEIT und anderer Medien zahlreiche Krisen- und Kriegsgebiete besucht: Liberia und Sierra Leone, Burundi und Ruanda, Zaire und Sudan, Bosnien und Tschetschenien, Algerien und Kosovo, Kambodscha und Osttimor - nicht als professioneller Reporter, sondern als Schriftsteller. Hier liegt zugleich die Antwort auf die zuvor gestellte Frage: Es gibt existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muß, wenn er etwas über sich selbst und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewußt hat. Ich rede von Grenzsituationen, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann, sondern nur, indem man sich von seinem Schreibtisch entfernt. Die Literatur hat das zu allen Zeiten getan.
Im Sommer 1851 reist Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj in den Kaukasus. Am Vorabend seines 23. Geburtstags am 28. August (alter Zeitrechnung) notiert er folgenden Stoßseufzer in sein Tagebuch: "Habe Frauen gehabt, habe mich schwach gezeigt in vielen Fällen, im einfachen Umgang mit Menschen, in der Gefahr, im Kartenspiel, und stecke noch immer voll falscher Scham. Habe viel gelogen. Bin, Gott weiß wozu, nach Grosnaja gekommen."
Tolstoj war ein Moralist, der die Bibel wörtlich nahm und bis in sein hohes Alter Buch darüber führte, daß er gelogen oder daß er seine Frau betrogen hatte. Er litt unter Schuldgefühlen, die er mit Gott und seinem Gewissen ausgefochten hat. Tolstoj war aber auch ein Spieler, wie viele russische Adlige damals, und hätte beim Kartenspiel um ein Haar sein väterliches Gut verloren. Das nur am Rande, denn hier geht es um etwas anderes, den Krieg im heutigen Tschetschenien.
Das nach Iwan dem Schrecklichen benannte Grosnaja, das heutige Grosny, war schon damals Schauplatz eines seit Jahrzehnten andauernden, immer wieder aufflammenden Krieges. Tolstoj hat die beschwerliche und gefährliche Reise zusammen mit seinem älteren Bruder auf eigene Kosten unternommen, um als Beobachter an einem Feldzug des russischen Heeres gegen aufständische Tschetschenen teilzunehmen. Obwohl er nicht in der Armee gedient hat und von militärischen Fragen nichts versteht, träumt er von einer Karriere als adliger Offizier; gleichzeitig will er Schriftsteller werden und Material sammeln für eine Erzählung oder einen Roman über den Krieg im Kaukasus. Auf Tolstojs Frage, ob er sich seinem Regiment anschließen dürfe, antwortet der diensthabende Offizier, Hauptmann Chlopow: "An sich dürfen Sie schon. Bloß, mein Rat wäre, lassen Sie's lieber. Wozu das Risiko eingehen?" Und er empfiehlt ihm die Lektüre eines Standardwerks über den Krieg, in dem ausführlich beschrieben wird, wo welches Armeekorps gestanden und wie jede Schlacht verlaufen ist. Genau das, sagt Tolstoj, interessiere ihn nicht. "Ja, was denn sonst? Wollen Sie etwa bloß mal sehen, wie Menschen umgebracht werden?" Nein, antwortet Tolstoj und stellt eine Frage, die noch heute, hundertfünfzig Jahre später, durch ihre Naivität überrascht: er will wissen, was Mut ist, warum Soldaten in den Kampf ziehen und sterben.
"Mut zeigt", sagt Hauptmann Chlopow, "wer sich so benimmt, wie es sich gehört" - ein Ausspruch, den Tolstoj in seinem Tagebuch festhält, weil er ihn überzeugender findet als Platons Definition, Mut sei "Wissen um das, was zu fürchten ist, und was nicht", die ihm zu abstrakt erscheint.
Tolstoj begleitet das russische Heer bei einer Strafexpedition, in deren Verlauf ein tschetschenisches Bergdorf (Aúl) geplündert und gebrandschatzt wird; die Einwohner werden von Soldaten massakriert. Zwei Dinge irritieren Tolstoj: Obwohl er dem Generalstab zugeteilt ist, gewinnt er keinen Überblick über die Operation; das Vorgehen der Armee erinnert ihn an einen Menschen, der mit einer Axt in der Luft herumfuchtelt. Und den Befehl zur Vernichtung des Dorfes erteilt Fürst Barjatinski, der Kommandeur, eher beiläufig, als ordne er bei einem Hausball an, den Tisch zu decken: "Je nun, Oberst, mögen die Leute nur brennen und plündern, ich sehe ja, daß sie schreckliche Lust dazu haben, sagte er lächelnd."
Tolstojs unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens entstandene Erzählung Der Überfall ist literarisch unausgereift; der auf Tagebuchnotizen basierende Text liest sich wie der Bericht eines Kriegsreporters - ihm fehlt die nötige Distanz. Erst siebzehn Jahre später, in seinem Hauptwerk Krieg und Frieden, hat der Autor seine im Kaukasus gesammelten Erfahrungen literarisch verfremdet und zu einem Roman umgeschmolzen: Dessen Held Pierre ist ein Zivilist, der wie der junge Tolstoj nichts von militärischer Strategie versteht und orientierungslos zwischen Toten und Sterbenden auf dem Schlachtfeld von Borodino umherirrt. Bekanntlich ist Krieg und Frieden ein historischer Roman, der in der Napoleonischen Ära spielt. Tolstoj brauchte noch einmal dreißig Jahre, um das traumatische Kriegserlebnis seiner Jugend im Alterswerk Hadschi Murat ungefiltert darzustellen. Ein Zitat aus diesem Buch, Tolstojs letztem Roman, der im Kaukasus zur Zeit des damaligen Tschetschenien-Krieges spielt:
"Sado ging mit den Verwandten, Schaufel und Hacke in der Hand, das Grab für den Sohn ausheben. Der alte Großvater hockte an der Mauer der zerstörten Hütte, schälte die Rinde von einem Stöckchen und stierte dumpf vor sich hin. [
] Wehklagen von Frauen drang aus allen Häusern und vom Platz her, wohin noch zwei Tote gebracht worden waren. Die kleinen Kinder heulten mit den Müttern. Das hungrige Vieh brüllte nach Futter, das es nicht gab. Die größeren spielten nicht, sondern blickten aus erschrockenen Augen auf die Erwachsenen."
Es lohnt sich, diesen Roman von Tolstoj zu lesen. Schon im 19. Jahrhundert gab es eine Reihe von Werken der russischen Literatur, die vom Krieg im Kaukasus handelten und bei deren Lektüre man das Gefühl hat, die Zeit sei stehen geblieben. Es ist derselbe sinnlose Krieg wie heute, genauso wenig vom Erfolg gekrönt, mit entsetzlichen Verlusten auf beiden Seiten, vor allem natürlich unter der Zivilbevölkerung, aber auch unter den russischen Soldaten.
Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu - so lautet der Grundgedanke von Lessings Laokoon: "Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf und urteile! Man lasse ihn schreien und sehe! Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht abwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann."
Lessings Laokoon ist weder eine klassizistische Betrachtung über edle Einfalt und stille Größe antiker Kunst noch eine akademische Abhandlung über die Grenzen von Malerei und Poesie, wie der Untertitel verheißt: vielmehr ein Essay über die Darstellbarkeit von Leiden und körperlichem Schmerz, Grausamkeit und Gewalt, der ins Zentrum der hier skizzierten Problematik führt, und dies um so mehr, als Lessing den Leser nicht mit abgeschlossenen Gedanken konfrontiert, sondern in den Denkprozeß einbezieht und an der Entstehung seines Textes teilhaben läßt.
Lessing unterscheidet zwischen unmittelbaren Augenzeugen eines Geschehens, die er Umstehende nennt, und den Zuschauern, also der Öffentlichkeit; zwischen beiden steht der Erzähler oder Chronist, dessen Rolle heutzutage der Reporter vertritt. Alle zusammen sind sie unfähig zur Empathie, nicht aus Mangel an gutem Willen, sondern aus Mangel an Einbildungskraft, die es ermöglicht, sich in andere hineinzuversetzen: ein psychologischer Mechanismus, der nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist, da er vor allem dem Selbstschutz dient - die Aufhebung der äußeren Distanz gefährdet das innere Gleichgewicht.
Lessings Beobachtung habe ich nach der Rückkehr aus Kriegs? oder Krisengebieten bestätigt gefunden. Die Stirn meines Gegenübers legte sich in schmerzliche Falten, sobald meine Antwort auf die Frage "Wie war's in Ruanda? Wie war's in Kambodscha?" länger als zehn Sekunden dauerte und mehr beinhaltete als "furchtbar" oder "schlimm" oder "heiß". Offenbar überforderte das, was ich mitzuteilen versuchte, meine Zuhörer, deren Phantasie nicht ausreichte, um sich hineinzuversetzen in ein Flüchtlingslager oder Minenfeld. Aber sie waren neugierig darauf, wie das Wetter in Ruanda und Kambodscha gewesen war und was es dort zu essen gab, das heißt, sie legten ihre Urlaubserlebnisse als Maßstab an. Dagegen ist nichts einzuwenden. Was mich mehr erstaunt hat, war die Tatsache, daß auch die Opfer von Krisen und Kriegen nichts wissen wollten von den Leiden anderer Menschen in anderen Teilen der Welt, weil sie vollauf beschäftigt (und oft genug überfordert) waren mit der Verarbeitung ihres eigenen Leids.
Ich mache jetzt einen Sprung nach Haiti und gebe ein Beispiel für das, was ich hier anhand von Lessing dargelegt habe.
Es war nicht der erste Tote, den ich in Haiti zu Gesicht bekam, aber er hat sich tiefer als andere meinem Gedächtnis eingeprägt. Er schien nicht zu schlafen, wie ein gnädiges Klischee es will - seine weitaufgerissenen Augen hatten das Grauen fixiert, das ihm widerfuhr. Wahrscheinlich war er auf dem Heimweg von einer Diskothek einer Patrouille der Armee in die Arme gelaufen, die nachts Jagd machte auf echte und eingebildete Gegner des Militärregimes - die Armenviertel an der Straße zum Flughafen waren Hochburgen des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide. Die Paramilitärs warfen die Leiche auf einen Müllhaufen am Straßenrand, wo sie zur Abschreckung liegenblieb, und die Anwohner wagten nicht, den Toten zu begraben, aus Angst vor Repressalien der Polizei.
Als ich den Ermordeten 24 Stunden später wiedersah, lag er nicht mehr auf dem Rücken, sondern auf dem Bauch. Diebe hatten ihm die Schuhe ausgezogen, und streunende Hunde oder Schweine, die in den Armenvierteln Haitis frei herumlaufen, hatten den Leichnam ausgeweidet und auf die andere Straßenseite gezerrt. Den Anblick beschreibe ich lieber nicht. Aus gutem Grund hat Alex Webb, der mich begleitende Photograph, nur die nackten Füße aufgenommen.
Seltsamerweise stellte ich mir keine der Fragen, die sich jeder Zeitungsleser und Fernsehzuschauer stellt und die der Kommentar kurz und bündig beantworten muß: wie der junge Mann hieß, welchem Beruf er nachging, wie und warum er ermordet worden war. Nicht weil mich diese Fragen nicht interessierten, sondern weil sie mir banal vorkamen angesichts dieses abrupt beendeten Menschenlebens. Stattdessen fiel mir, während Passanten, Tempotaschentücher vor die Nasen gepreßt, den Toten betrachteten und sich verstohlen umsahen, bevor sie weitergingen, ein Vers meines Doktorvaters Walter Höllerer ein, der den existentiellen Ernst der Situation besser zum Ausdruck brachte als jeder Medienreport:
"Der lag besonders mühelos am Rand / Des Weges."
Und obwohl Höllerers Gedicht nicht unter der Tropensonne Haitis, sondern in Eis und Schnee entstanden war, beim Rückzug der deutschen Wehrmacht über einen italienischen Alpenpaß, wurde es dem Geschehen eher gerecht als ein um Objektivität bemühter Kommentar, weil sein Autor in dem anonymen Toten nicht bloß einen gefallenen Soldaten, sondern einen Bruder sah: "Kein Knecht ja war es; nein, es starb ein Bruder mir", sagt Antigone, und Kreon antwortet ihr: "Der Feind ist niemals, auch im Tode nicht, geliebt." Jahre später, als ich die Tragödie von Sophokles las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und mir wurde klar, daß ich, ohne es zu wissen, eine Urszene der Literatur vor Augen gehabt hatte.
Denn im Antigone-Drama geht es darum, daß die Protagonistin ihren getöteten Bruder nicht bestatten darf, weil er - ähnlich wie später in Haiti - zur Abschreckung liegen bleiben soll.
Aber daran dachte ich nicht, als ich, mit dem Vers von Höllerer im Kopf, vor dem anonymen Toten stand. Das schwer zu beschreibende Gefühl der Authentizität entsprang dem Bewußtsein des Dichters, daß es ihn genauso hätte treffen können, und wo dieses Bewußtsein fehlt, wird der Text frivol oder, was auf das gleiche hinausläuft, trivial - unabhängig davon, ob man den Getöteten als Helden feiert oder als Opfer eines sinnlosen Gemetzels beklagt. Das ist nicht nur eine Frage des Stils, sondern auch eine der räumlichen Distanz: Vom Schreibtisch des Leitartiklers oder vom Podium des Festredners betrachtet, sieht die Welt anders aus, als wenn einem Verwesungsgestank in die Nase steigt. Wer den Geruch des Todes eingeatmet hat, wird ihn nicht mehr los, und er spürt so etwas wie heiligen Zorn, wenn er Leute mit Begriffen jonglieren sieht, deren Realität sie nicht am eigenen Leib erfahren haben und die für sie leere Worte sind - ganz gleich, ob sie sich an Krieg und Gewalt aufgeilen oder diese voll selbstgerechter Empörung verdammen.
Von der ästhetischen Faszination des Krieges habe ich wenig gespürt, wohl aber vom Sog der Gewalt und von der Anziehungskraft des Bösen, das ich lange Zeit für eine fromme Lüge zweifelhafter Moralapostel hielt. Heute glaube ich, daß das Böse existiert, und habe am eigenen Leib erfahren, wie ansteckend es wirkt. Wer gegen Drachen kämpft, wird selbst zum Drachen, schreibt Nietzsche. Die Greuel, die ich auf Reisen in Krisengebiete sah, haben mich zunehmend abgestumpft und für die Leiden der Opfer unempfindlicher gemacht - ja, schlimmer noch, ich ertappte mich dabei, wie ich das obszöne Schauspiel der öffentlichen Erniedrigung eines Menschen genoß.
"JÄGERMEISTER - EUROPE'S MOST POPULAR LIQUOR" steht auf dem T?Shirt des Bürgermeisters, der vor dem Rebellenangriff als Wachmann bei der südafrikanischen Rutile Mining Company angestellt war und jetzt die Selbstverteidigung der örtlichen Bevölkerung organisiert. Sein Name ist Alfred Bangali, er ist 43 Jahre alt und hat zwölf Kinder, von denen vier während des Bürgerkriegs in Sierra Leone ums Leben gekommen sind. Ringsum verfallene Hütten mit abgebrannten Strohdächern; nicht nur die Häuser, auch die Baumstämme sind von Einschüssen durchsiebt, aber ein Granatsplitter, den eine Palme leicht verkraftet, kann für Menschen tödlich sein.
"Nyandehun Village, Imperi Chiefdom, Bonthe District, Mende People" - mit diesen Worten stellt uns der Bürgermeister seine Krieger vor, mit Buschmessern, Speeren und Bajonetten bewaffnete junge Männer, deren nackte Oberkörper mit weißer Farbe bemalt und mit Fetischen aus Tierknochen und Kaurimuscheln behängt sind, die sie unverwundbar machen sollen. Einer der Kämpfer schwenkt eine Kalaschnikow und trägt, zur Abschreckung des Feindes, Patronen im Mund. Die Kamajors - so heißen die in Jagd? und Kriegszauber initiierten Mitglieder des Männerbunds - sehen aus wie Eingeborene aus einem Tarzan?Film. Aber das Spiel ist ernst: Sie sind naßgeschwitzt vom Laufen und zerren wie ein bockendes Kalb einen mit Stricken gefesselten Gefangenen hinter sich her, angeblich ein Spion der Rebellenarmee, den sie in einem angrenzenden Maisfeld überrumpelt haben. Der Gefangene ist fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt; er blutet aus einer Armwunde und schlottert vor Angst, während seine Bewacher ihm Buschmesser und Bajonette an die Kehle setzen und den Lauf der Kalaschnikow gegen den Bauch drücken.
Typisch war, daß diese Gruppe von vielleicht zwanzig Leuten eine einzige Kalaschnikow hatte.
Er soll sich zu Unrecht als Kamajor ausgegeben und aus einer Hütte Geld gestohlen haben - tausend Leones, sagt Alfred Bangali, was etwa einem Dollar entspricht. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist, um die weißen Besucher zu beeindrucken, denn als der Bürgermeister die Umstehenden fragt, was mit dem Spion geschehen soll, stimmen alle für dessen Hinrichtung und ritzen wie zur Probe mit den Spitzen ihrer Buschmesser und Bajonette seine Brust, aus der dunkle Blutstropfen quillen. Ich bitte den Bürgermeister, das Leben des Gefangenen zu schonen, aber die mich begleitende Mitarbeiterin einer humanitären Organisation ist anderer Meinung: Die Strafjustiz sei Angelegenheit der örtlichen Behörden, und ich hätte kein Recht, mich in die inneren Angelegenheiten eines afrikanischen Dorfes einzumischen. "Der Dieb hat Glück", sagt Alfred Bangali, "ohne Ihre Intervention wäre er jetzt schon ein toter Mann."
Es wirkt absurd, daß mich die Mitarbeiterin einer humanitären Organisation daran hindern wollte, das Leben eines Menschen zu retten. Aber aus ihrer Sicht war das konsequent, weil sie als Richtlinie vorgegeben bekam, sich nicht einzumischen in die inneren Verhältnisse oder die örtliche Justiz eines fremden Landes, auch wenn die Verhältnisse dort noch so haarsträubend waren. An solche Auflagen habe ich mich als Reporter nicht gebunden gefühlt.
Was mich am meisten erschreckt hat, war nicht die Brutalität der Kamajors, sondern meine eigene Reaktion: Ich geriet in eine rauschhafte Erregung, die sich zu sadistischer Lust steigerte, als das Blut des jungen Mannes zu fließen begann. Nein, die Erinnerung trügt, es war der Anblick des bewaffneten Schergen, der mit herausgestreckter Zunge einen Blutstropfen von der Spitze seines Bajonetts leckte - ein obszönes Detail, das sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeätzt hat. Das Gesicht des Mannes war von Gier und Haß verzerrt wie das eines Kriegsknechts auf einem mittelalterlichen Altarbild, während der nackte Oberkörper des Gefangenen an Botticellis Darstellung des heiligen Sebastian erinnerte, dessen von Pfeilen durchbohrter Leib erotische Signale aussendet. Am liebsten hätte ich mich an der Folterung des jungen Mannes beteiligt, während ich um sein Leben stritt. In einem unkontrollierten Augenblick brach die Barbarei hervor unter dem dünnen Firnis der Zivilisation.
Soweit das Hauptthema meines Buches - Barbarei und Zivilisation. Meine These lautet - Sie müssen mir da nicht folgen, aber vielleicht stimmen Sie mir ja doch zu -, daß all dies auch bei uns in Europa möglich wäre. Gott sei Dank gibt es hierzulande nicht die Rahmenbedingungen, die so etwas ermöglichen, aber man stelle sich vor, die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent wie in vielen Krisengebieten, und extremistische Gruppen wie Neonazis oder linke Terroristen und deren Sympathisanten werden salonfähig und diktieren das Gesetz der Straße, während die Polizei sich zurückzieht, anstatt Flagge zu zeigen. Genau das ist der Fall in Krisengebieten, deren wichtigstes Kennzeichen der sogenannte Checkpoint ist, eine Straßensperre, auf die man mit gemischten Gefühlen zufährt, weil man nicht genau weiß, was einen erwartet: Milizionäre, Rebellen, Banditen? Oft sind sie alles zugleich.
Dann geht es darum, mit denen zu reden, und dabei ist es wichtig, möglichst frühmorgens zur Stelle zu sein, wenn die Posten am Checkpoint noch nicht betrunken sind. Später am Nachmittag sind sie betrunken und bereit, auch ohne Grund zu töten oder zu plündern. Man gibt ihnen - so die Grundregel in Afrika - zwei Zigaretten. Nicht eine ganze Packung, das ist zuviel und sät Mißtrauen. Nur eine Zigarette wäre wiederum zu wenig. Dazu macht man den Witz: "Das sind jetzt meine vorletzten, aber wenn ich wiederkomme, dann bekommst Du noch zwei." Wenn man ihnen eine ganze Schachtel oder Stange Zigaretten gibt, denken die Banditen, man habe etwas zu verbergen, und durchsuchen das Auto, was unangenehm enden kann, denn man befindet sich in einem rechtsfreien Raum.
Dies nur als Beispiel für die merkwürdige Mischung von Gewalt und Normalität, die in vielen Krisengebieten an der Tagesordnung ist. Dort herrscht kein Krieg im traditionellen Sinn, aber auch kein Frieden, und deshalb kann die bloße Anwesenheit einer regulären, disziplinierten Armee mit dem entsprechenden modernen Kriegsgerät dafür sorgen, daß solche Unruhen eingedämmt werden. Das klappt nicht immer, wie man in Afghanistan sieht, aber ohne die Präsenz der NATO wäre es ein noch schlimmerer Alptraum wie unter dem Regime der Taliban. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war selbst dort.
Ausschnitt aus der anschließenden Diskussion:
Frage aus dem Plenum:
Mich hat natürlich jetzt zum Ende ein bißchen irritiert, daß Sie von sich gesprochen haben, daß Ihnen an sich selbst sadistische Züge aufgefallen sind. Ich vermute mal, das ist keine schriftstellerische Koketterie. Wie erklären Sie sich so eine Reaktion?
Hans Christoph Buch:
Ich hätte das weglassen und sagen können, ich bin ein Gutmensch, der stets moralisch und politisch auf der richtigen Seite steht. Doch ich wollte zeigen, wie man auch als Beobachter verroht, und wie ansteckend das Böse wirkt. Aber ich habe mich ja nicht an der Folterung des jungen Mannes beteiligt, sondern ich habe ihm, wie ich hoffe, das Leben gerettet durch meine Intervention.
Ich möchte aber nicht verschweigen, daß all das auch einen selber betrifft und daß die Kräfte der Aggression und der Lust an der Gewalt in jedem Menschen, zumindest aber in jedem Mann, schlummern und geweckt werden können. Das ist besonders ausgeprägt in einem bestimmten Lebensalter, und deshalb waren die Kämpfer der Bürgerkriegsparteien zumeist Jugendliche oder sogar Kinder, die viel leichter zum Töten zu drillen sind als Erwachsene.
In Liberia und in Kambodscha waren es 12- bis 20-Jährige. Deren Kommandeure waren Anfang oder Mitte 20, nannten sich General oder Generalfeldmarschall und legten sich Phantasienamen wie Rambo oder Rommel zu. Und sie hatten zum Töten gedrillte Kinder unter sich, Kinder, die in ihrer Unschuld besonders grausam sein konnten, bereit, für fünf Dollar jemanden zu töten vor laufender Kamera.
Dies ist eine Wirklichkeit, die man sich hierzulande nur schwer vorstellen kann, aber ich sage noch einmal: Es kann überall passieren, das ist nichts spezifisch Afrikanisches. Vielleicht ist die Anfälligkeit in Afrika besonders groß, aber ich habe ähnliches auch in anderen Weltteilen gesehen. Selbst eine Kulturnation wie die deutsche war vor dem Rückfall in die Barbarei nicht gefeit. Im übrigen lehrt uns die Psychologie, daß destruktive Kräfte in jedem Menschen angelegt sind und von Warlords und skrupellosen Demagogen bei Bedarf mobilisiert werden können.
Nachfrage:
Aber Sie kamen aus einem anderen kulturellen Kontext als die jugendlichen Kämpfer dort. Bei diesen Kämpfern, da steht man daneben und sagt sich: Das verstehe ich nicht. Aber Sie verstehe ich in diesem Zusammenhang noch weniger: Wieso empfanden Sie diesen Hauch sadistischer Lust?
Hans Christoph Buch:
Ich hatte Ihnen ja erklärt, das dies auch ein Experiment war mit mir selbst. Ich wollte nicht nur objektive Informationen über ferne Länder zusammentragen, sondern wollte wissen, wie ich subjektiv darauf reagiere, wenn ich mit brutaler Gewalt konfrontiert bin. Die Reaktion reicht von Horror und Traumatisierung, die in Alpträumen wiederkehrt, bis zur negativen Faszination, die irgendwann auf einen selbst übergreift. Ich habe an mir selbst bemerkt, daß man süchtig werden kann nach Gewalterfahrungen. Und ich kenne Kriegsreporter und Fotografen, die immer wieder in Krisengebiete fahren und davon nicht mehr loskommen. Von einem bestimmten Punkt an ist man nicht mehr reintegrierbar ins normale Leben, wenn man immerzu solche Bilder vor Augen hat. Auch Armeeangehörige, die mit Horrorszenen konfrontiert waren, können sich dem nicht entziehen. In den USA nannte man das Vietnam-Syndrom, und was das heißt, habe ich am eigenen Leib erfahren.